Ein ganz persönlicher Blick auf Hannah Arendt - Exkursionsbericht

Ein ganz persönlicher Blick auf Hannah Arendt

Hannah Arendt gilt als eine der bedeutendsten Philosophinnen des 20. Jahrhunderts. Auch wir, der Philosophie Leistungskurs des Werner-von-Siemens- Gymnasiums, haben uns mit ihr beschäftigt. Neben der ausführlichen Auseinandersetzung mit dem Buch „Denken ohne Geländer“ besuchten wir auch die Ausstellung „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“ im Deutschen Historischen Museum.

Doch unsere letzte Exkursion ermöglichte uns noch einmal eine ganz andere Perspektive: ein persönlicher Blick auf die Philosophin hinter den Werken. Diese neue Perspektive wurde uns durch ihre Großnichte Edna Brocke aufgezeigt, die mit uns Erfahrungen und Erinnerungen aus dem familiären Umfeld Hannah Arendts teilte. Diese einmalige Gelegenheit, mit einer engen Vertrauten der Philosophin persönlich sprechen zu dürfen, tröstete uns und unsere Lehrerin Frau Dr. Ruschmeier darüber hinweg, dass das Treffen am ersten Dienstag in den Herbstferien im Kinosaal des DHM stattfand. Die enge Vertraute Hannah Arendts erzählte spannende Geschichten Sie war sehr offen gegenüber Fragen aus dem Publikum, sodass wir als Zuhörer*innen die Möglichkeit hatten, Teil des Gesprächs zu werden.

Das Interview begann, in dem Frau Brocke auf ihre erste Begegnung mit Hannah Arendt einging. Jene erfolgte im Jahr 1955. Hannah Arendt kam im Spätsommer nach einer Griechenlandreise gemeinsam mit der Mutter von der damals zwölfjährigen Edna Brocke in Israel an. Obwohl Arendt in ihrer Familie den Spitznamen „die große Hannah“ trug, war ihr Erscheinungsbild, zur Verwunderung ihrer Großnichte, zierlich und eher klein. Der Spitzname diente zur Unterscheidung Hannah Arendts mit der „kleinen Hannah“, welche die Schwester Edna Brockes war.

Apropos Spitznamen: Bereits während des Besuches in der Hannah Arendt Ausstellung fiel mir ein Stück ganz besonders ins Auge. Es war eine Art persönliches Artefakt, nämlich ein handgeschriebener Brief Arendts. Dieser wurde an ein „Fröschlein“ adressiert. Schon damals stellte ich mir die Frage, wer mit diesem Kosenamen gemeint sein könnte. Eventuell ein Lebensgefährte oder eine Freundin? Doch leider gab mir auch der beschreibende Text in der Ausstellung keine genaue Auskunft über die Person hinter dieser Anrede. Nun, ein paar Monate später, saß ich genau jenem „Fröschlein“ gegenüber. Edna Brocke teilte mit uns die Geschichte, wie sie den außergewöhnlichen Spitznamen erhielt. Sie wurde nämlich von Hannah Arendt so getauft, nachdem sie sich im Kindesalter einen grünen Schlafsack überstülpte, was bei Arendt offenkundig die Assoziation an einen Frosch weckte.

Nach Arendts Tod erhielt Brocke einige Andenken, von denen sie u. a. auch jenen Brief der Ausstellung im Deutschen Historischen Museum zur Verfügung stellte. Das Buch über den Eichmannprozess mit handgeschriebenen Korrekturen von Hannah Arendt wurde ebenfalls im Zuge der Ausstellung präsentiert. Das Zeitdokument war die erste Habseligkeit, die Edna Brocke nach der Beerdigung Arendts zur Erinnerung mit sich nahm.

Die Veröffentlichung der Berichte von Arendt über den Eichmannprozess wurden sehr kontrovers diskutiert. Edna Brocke begleitete Arendt zu den Prozessen in Jerusalem und erlebte die darauffolgenden Reaktionen auf die verfassten Texte. Kritik an ihnen wurde sowohl von jüdischer als auch anderer Seiten geäußert. Auch wendeten sich viele ehemalige Freunde von ihr ab. Die zum Teil sehr harten Äußerungen, gerade aus dem engeren Umfeld und die Streitigkeiten haben, so die Auffassung Edna Brockes, ihr Leben erheblich verkürzt.

Im April 1973 besuchte Edna Brocke gemeinsam mit ihrem damaligen Mann die 1941 in die USA emigrierte Hannah Arendt. Jene Reise wurde von Frau Brocke als „komplex“ beschrieben und zeigte uns Zuhörern einige Eigenheiten der Philosophin auf. Zuerst wollte Arendt von Beginn an nicht, dass die beiden Gäste während ihres Aufenthaltes in ihrem großräumigen Apartment wohnten. Das war für Brocke jedoch kein Problem. Auch im weiteren Gespräch wurde Arendt als eine Person beschrieben, die auf ihre Rückzugsmöglichkeiten großen Wert legte.

Besonders interessant war jedoch die Verabschiedung. Bevor Brocke und ihr Mann New York verließen, waren sie ein letztes Mal gemeinsam mit Arendt in einem Kaffee verabredet. Aufgrund der schlechten Parkplatzsituation stieg Edna Brocke bereits aus und setzte sich zu Arendt in das Kaffee, während sich ihr Mann weiterhin auf die Suche nach einem freien Parkplatz begab. Als er schließlich das Lokal betrat, war Arendt bereits gegangen. Da sie am Abend Besuch bekam, verließ sie die Verabredung frühzeitig. Obwohl das Ehepaar ein wenig entrüstet darüber war, entschlossen sich beide dennoch ein wenig später mit einem Blumenstrauß an die Wohnungstür von Hannah Arendt zu klopfen, um sich für den schönen Aufenthalt zu bedanken. Der Besuch für dessen Empfang Arendt frühzeitig nach Hause ging, war noch nicht eingetroffen und würde dies auch nicht mehr vor Anbruch des späten Abends tun. Warum Arendt das Café dennoch so früh verließ, ist Brocke scheinbar bis heute ein Rätsel geblieben.

Ein weiteres Mal reiste Edna Brocke gemeinsam mit ihrem Vater nach New York, jedoch aus traurigem Anlass: sie wollten der Beerdigung Hannah Arendts beiwohnen. Die beiden waren die einzigen anwesenden Blutsverwandten. Brocke erzählte uns, dass die Herrichtung des toten Körpers von Hannah nicht der lebendigen Version angepasst war. So trug sie beispielsweise starken Lippenstift und wirkte insgesamt fremd auf die Großnichte. Außerdem plante man für den Leichnam eine Verbrennung. Die zuständige Freundin Mary McCarthy argumentierte damit, dass dies dasselbe war, was Arendt sich für ihrem Mann wünschte und daher auch für sie in Frage käme. Allerdings entgegnete Brocke, dass ihr Ehemann kein Jude war, anders als Hannah. Da eine Verbrennung im Judentum nicht gestattet ist, lehnten die Familienangehörigen diese ab. Doch McCarthy, die nach Hannahs Tod als deren Nachlassverwalterin amtierte, ging nur sehr begrenzt auf die Wünsche der Familie ein.

Eine Sache, die im Laufe der Unterhaltung bei mir hängengeblieben ist die humorvolle Seite Arendts. Sie wurde mehrfach mit einem herzhaften Lachen beschrieben und auch als ein sehr liebenswürdiger Mensch bezeichnet.

Vielen Dank an Edna Brocke, die uns an den persönlichen Erfahrungen teilhaben ließ. Nun am Ende einer gelungenen Exkursion haben wir ein weiteres Stück zu unserem Bild von Hannah Arendt dazugewonnen. Doch ich bin mir sicher, dass wir zukünftig nicht aufhören werden, dieses Bild Schritt für Schritt weiter wachsen zu lassen, indem wir mehr über Hannah Arendt und ihre Werke in Erfahrung bringen.

Helena Große, Jahrgangsstufe 12

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